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Zwischen Erinnerung und Obsession

Martin Rosefeldt , Arte, 17 May 2003




"Uzak" von Nuri Bilge Ceylan ist das berührende Porträt zweier "gescheiterter" Existenzen im winterlich verschneiten Istanbul, getragen von der Intensität des Unausgesprochenen und der Menschlichkeit seiner Hauptdarsteller.

In Mahmut's Leben klafft eine große Lücke zwischen den Idealen von Einst und seinem jetzigen trostlosen Leben. Er, der früher einmal ein ambitionierter Reportage-Fotograf war, verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Ablichten von Kacheln für Werbekataloge. Seine Ehe ist geschieden und so schlägt Mahmut den Großteil seiner Zeit vor dem Fernseher tot.


Unerwarteter Besuch

Eines Tages muss er Yusuf bei sich aufnehmen, ein Mitglied seiner Familie, die auch Mahmut einst in der entlegenen Provinz verlassen hatte. Der junge Mann, der seine Arbeit in einer Fabrik verloren hat, will auf einem Schiff anheuern.


Mahmut: Entschuldigung. Ich hatte ganz vergessen, dass du heute kommen wolltest.
Yusuf: Machts nichts. Kein Problem.
Mahmut: Was gibt's Neues bei uns?
Yusuf: Alles wie immer.
Mahmut: Arbeitest du immer noch in der Fabrik?
Yusuf: Die hat zugemacht. Wegen der Krise. Zuerst haben sie meinen Vater entlassen, dann mich.
Mahmut: Wie viele haben denn ihre Arbeit verloren?
Yusuf: Ungefähr 1000.
Mahmut: So viel wie die Einwohner einer Stadt.
Yusuf: Stimmt.
Mahmut: Und was wirst du auf dem Schiff machen?
Yusuf: Bootsmaat oder Steward. Ich mach alles was sie haben. Matrosen verdienen gut. In Dollar. Du siehst was von der Welt. Und auf See gibt's keine Wirtschaftskrisen.


Minutenlang zeigt uns Nuri Bilge Ceylan seinen wortkargen, in die Rituale seiner Einsamkeit versponnenen Protagonisten, der sich in seiner mit allen Insignien eines intellektuellen Komforthaushalts ausgestatteten Wohnung zurückgezogen hat. Die Dauerberieselung aus dem Mega-Fernseher, die gelegentlichen Besuche einer Mätresse und die zwanghaften Ordnungsrituale künden von einem Mann in einer existentiellen Krise, dem seine Ideale abhanden gekommen sind.


Trakikomische Zwischentöne

Dass es sich bei Mahmut um das Alter Ego des Regisseurs handeln könnte, darauf verweist der Umstand, dass Ceylan seinen Protagonisten in der eigenen Wohnung leben lässt und die eigene Mutter und Ehefrau Mahmuts Mutter und geschiedene Ex-Frau spielen. Bei aller Tristesse kann Ceylan diesem deprimierenden Zustand, der immer etwas mit Selbstmitleid und Verklärung der Vergangenheit zu tun hat, auch tragikomische Zwischentöne abgewinnen. Yusuf, der unerwartete Besucher, stört, wenn Mahmut nachts die Pornokassette dem Tarkowski-Video vorzieht und er stört, weil er das Licht anlässt und Mahmut dazu bringt, sich in der eigenen klebrigen Mausefalle zu verfangen.


Aber dennoch führt die Zweisamkeit der beiden einsamen Männer bei Ceylan zu keiner wirklichen Annäherung. Zu unterschiedlich ist ihrer beider Leben verlaufen, zu sehr hängen die beiden Männer ihren Erinnerungen und Obsessionen nach. Yusuf muss erkennen, dass sein Traum, zur See zu fahren, eine Luftblase ist. Auch seine Sehnsucht nach einer Frau erfüllt sich nicht. Im winterlich verschneiten Istanbul fängt Ceylan diese Melancholie in großartigen, stahlblauen Bildern ein.


Nachhallendes Meisterwerk

Die kleinen Szenen, Gesten und Blicke, die Ceylan für die Gefangenheit seiner Protagonisten finden, sind es, die diesen leisen Film in der Tradition von Ozu, Kiarostami und Tarkowski zum ersten, noch lange nachhallenden Meisterwerk dieser Filmfestspiele machen.


arte meint: vier von maximal vier Sternen